Bedürfnisse statt Waren – geht das so einfach?

Konzeptuelle Probleme einer unkritischen Bedürfnisorientierung in der Phase der Koexistenz mit der kapitalistischen Warenproduktion [alle Artikel der Broschüre Ich tausch nicht mehr - ich will mein Leben zurück] Cover der Broschüre "ich tausch nicht mehr - ich will mein Leben zurück"

Vorbemerkung:

Ausgangspunkt für meinen Beitrag waren Probleme und Mängel, die ich in der Theorie und Praxis des NK-Projekts Lokomotive Karlshof zu erkennen glaubte. Ein theoretischer Mangel unseres Konzeptes einer „nichtkommerziellen Landwirtschaft“ (NKL) war, dass wir zwar eine gesellschaftliche Zielvorstellung entwickelt hatten und diese mit unserer NKL exemplarisch und auf der gesellschaftlich untersten Ebene direkter sozialer Beziehungen in eine experimentelle Praxis umsetzen wollten. Eine theoretische Vorstellung von der Ausweitung des NK-Gedankens auf weitere gesellschaftliche Ebenen - unerlässlich für die Entwicklung zu einer echten Alternative zur kapitalistischen Warenproduktion - hatten wir jedoch absichtlich nicht entwickelt. Wir wollten nicht noch einen weiteren „Königsweg“ heraus aus dem Kapitalismus entwerfen.

Vielmehr waren wir überzeugt, dass es in einem solchen Aufhebungsprozess eine Vielzahl von möglichen Praxiswegen geben würde, solange darauf geachtet würde, dass diese nicht wieder in die Verwertungsökonomie zurück führten. Da sich mit der dauerhaften Begrenzung der NK-Praxis auf unser kleines Experiment aber keine emanzipatorische Vorstellung verbinden ließ, führte diese Weigerung, eine Ausweitung theoretisch zu formulieren, bei den Beteiligten zur Entwicklung relativ vager und individuell unterschiedlicher Vorstellungen von einem sich (qualitativ und quantitativ) ausdehnenden Netzwerk nicht wertvermittelter Austauschbeziehungen. Beflügelt von unserem Erfolg gesellte sich dazu bald die Vorstellung, dass sich solche nichtkommerzielle „Inseln“ gesellschaftlich vervielfältigen und wir allein dadurch unserem Ziel näher kommen würden. Da diese Vorstellungen aber keiner theoretischen Überprüfung unterzogen wurden, kamen auch die Probleme und Widersprüchlichkeiten, die sie für die Theorie einer gesamtgesellschaftlichen Aufhebung der Wertvergesellschaftung beherbergen könnten, nicht in unser Blickfeld. Dies ist jedoch nicht das Thema des hier vorgelegten Beitrags.

Eine weitere, und in unserer Praxis wesentlich gravierendere Folge unserer theoretischen Weigerung war jedoch, dass dadurch auch die zeitlich unabsehbare Phase der Koexistenz mit dem warenproduzierenden System, sowie die damit verbundenen Probleme und Widersprüche, theoretisch nicht in den Blick genommen und antizipiert werden konnten. Eines dieser Probleme glaubte ich in der kaum hinterfragten und begrifflich weitgehend unbestimmten Bedürfnisorientierung des NK-Konzeptes erkannt zu haben.

Bei einer so zentralen Stellung der Bedürfnisse drängt sich die Frage nach ihrer begrifflichen Bestimmbarkeit auf

Bei der Formulierung des NK-Konzeptes fiel den Bedürfnissen der Menschen eine zentrale Rolle zu. Sie sollten sowohl Ausgangs- als auch Zielpunkt der neu zu entwickelnden, nicht wertvermittelten Produktionsweise [1] werden und damit Funktionen übernehmen, die in der kapitalistischen Produktion von Markt und Geld abgedeckt werden (s. Fußnote 5). Schon Karl Marx hatte die kommunistische Gesellschaft als eine charakterisiert, in der „jeder nach seinen Fähigkeiten“ zur gesellschaftlichen Produktion beitragen und „jeder nach seinen Bedürfnissen“ aus ihr erhalten sollte. Bei einer so zentralen Stellung der Bedürfnisse drängt sich die Frage nach ihrer begrifflichen Bestimmbarkeit auf, auch und gerade weil wohl fast alle bereits ihr jeweils eigenes Verständnis davon mitbringen. Wenn auch eine umfassende begriffliche Klärung an dieser Stelle nicht möglich ist, so möchte ich hier doch zumindest einige Aspekte des Bedürfnisbegriffs, v.a. aus Sicht der Kritischen Psychologie aufzeigen, um anschließend zu einer kritischen Perspektive auf die den Bedürfnissen zugedachte Rolle in den NK-Praxen, v.a. in der Phase des Übergangs von bzw. der Koexistenz mit der kapitalistischen Produktionsweise, zu gelangen.

Die Kritische Psychologie, wie sie am Psychologischen Institut der FU Berlin nach 1968 entwickelt wurde, insbesondere von Ute Holzkamp-Osterkamp in ihrem 2-bändigen Werk Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung (1975/76), hat den Versuch unternommen, „die emotional-motivationalen Aspekte menschlicher Lebenstätigkeit“ grundlegend neu kategorial zu fassen. Mit der Methode der „funktional-historischen Analyse“ werden aus einer evolutionsgeschichtlichen Perspektive zunächst Grundkategorien zur Erfassung emotional-motivationaler Prozesse auf biologischem Niveau entwickelt (Band 1)[2] und anschließend in einem weiteren Schritt die „Besonderheit der Bedürfnisse des gesellschaftlichen Menschen“ herausgearbeitet (Band 2).[3] Bei Tieren – auch bei den höher entwickelten und sozial organisierten – wird noch von „Bedarfszuständen“ gesprochen, während „Bedürfnisse“ definiert werden als „Bedarfszustände in ihrer gesellschaftlichen, d.h. ‚menschlichen‘ Spezifik, in denen ihre unspezifisch biologischen Charakteristika aufgehoben sind.“[4]

Es wird unterschieden zwischen „sinnlich-vitalen“ und sog. „produktiven“ Bedürfnissen, wobei letztere spezifisch menschlich sind und nicht nur ein Bedürfnis nach einer produktiven Gestaltung der individuellen Lebensbedingungen bezeichnen, sondern auf Teilhabe an der nunmehr gesellschaftlich vermittelten Daseinsfürsorge abzielen.

Die gesellschaftliche Entwickelbarkeit der Bedürfnisse hat aber auch eine höhere Abhängigkeit der Menschen von diesen höher entwickelten Bedürfnissen zur Folge. Individuell kann die Bedürfnisbefriedigung dann nur noch durch Integration in einen gesellschaftlichen, arbeitsteilig organisierten Prozess vorsorgender Lebenssicherung abgesichert werden. Den sinnlich-vitalen Bedürfnissen kommt hierbei eine gewisse kompensatorische Funktion zu, da sie die psychischen und physischen Spannungs- und Erregungszustände, die mit den Anforderungen der „produktiven“ Ausweitung der Umweltbeziehungen und der damit einhergehenden Selbstentwicklung verbunden sind, durch die mit ihrer Befriedigung verbundenen, „regressiven“ Erfahrungen unmittelbaren Wohlbefindens abbauen können. Diese Kompensation funktioniert jedoch nur unter Bedingungen eines Gleichgewichts zwischen „produktiven“ und sinnlich-vitalen Bedürfnissen.

Unter den Bedingungen einer kapitalistischen Warenproduktion ist jedoch für die meisten Menschen eine Teilhabe am Prozess zur Herstellung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen nicht mehr unmittelbar erfahrbar.

Unter den Bedingungen einer kapitalistischen Warenproduktion ist jedoch für die meisten Menschen eine Teilhabe am Prozess zur Herstellung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen nicht mehr unmittelbar erfahrbar. Wenn sie überhaupt noch produktiv tätig sind, wird doch der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang ihrer Tätigkeiten und ihrer individuellen Reproduktion nicht mehr erfassbar. Die Subjekte verlieren die Kontrolle darüber und werden – bewusst oder unbewusst - zum Spielball diverser Märkte. Karl Marx nennt das „Entfremdung“ und bestimmt die damit verbundene Verdinglichung als „Verkehrung“ von Subjekt und Objekt: Der tätige Mensch wird zum Produktionsmittel, das Kapital als sich selbst verwertender Wert zum „automatischen Subjekt“.

Unter diesen Bedingungen können die „produktiven“ Bedürfnisse der Menschen nur noch sehr eingeschränkt erfüllt werden, es entsteht ein Ungleichgewicht, das häufig durch einen erhöhten Konsum von materiellen oder immateriellen Gütern zu kompensieren versucht wird. Außerdem wird demonstrativer Warenkonsum in bestimmten gesellschaftlichen Milieus zum Ersatz für weitgehend inhaltsleer gewordene Sozialbeziehungen. Dabei kommt es auch darauf an, dass eine möglichst große Vielfalt von Waren mit gleichen oder ähnlichen Funktionen vorhanden ist, um dem Bedürfnis, sich von anderen zu unterscheiden, Genugtuung zu zollen.

Ein weiteres Problem der Überformung durch die Warenökonomie ist die Tatsache,dass wir häufig unsere Bedürfnisse mit den Mitteln zu ihrer Befriedigung >identifizieren

Auch die Bedürfnisse nach Liebe, sozialer Nähe und Geborgenheit können unter den Bedingungen eines krisenhaften Kapitalismus von vielen Menschen nicht mehr ausreichend befriedigt werden, da der tägliche Überlebenskampf ums eigene Bestehen im Wettbewerb der Märkte ihre Energien absorbiert und Verhaltensweisen fördert, die einer vertrauensvollen Hinwendung zu ihren Mitmenschen eher entgegenstehen. Die dadurch entstehenden Mangelzustände werden nicht selten ebenfalls durch Warenkonsum zu kompensieren versucht.

Diese hier nur angedeuteten Zusammenhänge verweisen auf eine Bedürfnisstruktur im entwickelten Kapitalismus, die in hohem Maße durch Warenkonsum geprägt ist und die unser aller Sozialisation von Geburt an begleitet und mehr oder weniger eindrücklich beeinflusst hat. Wir können uns zwar bewusst zu diesen Einflüssen verhalten, doch die Entwicklung unserer Bedürfnisse beginnt bereits vor der Geburt [5] und wird, ebenso wie ihre Aktualisierung, nur sehr eingeschränkt vom Verstand gesteuert. Sie sind „einfach da“ und meist nehmen wir sie auch als gegeben hin. Selbst wenn wir Überlegungen über ihre Herkunft (oder warum sie jetzt gerade aktualisiert werden) anstellen, sind dies häufig Rationalisierungen, die keinerlei Anspruch auf Gültigkeit erheben können. Denn unsere Bedürfnisse werden zwar stark von gesellschaftlichen Bedingungen und lebensgeschichtlichen Ereignissen beeinflusst, ihre Entstehung liegt für uns aber im Dunkeln des Unterbewusstseins und ist einer direkten rationalen Erschließung nicht zugänglich.

Die Frage würde dann nicht mehr lauten: Was BRAUCHEN wir und wieviel davon können wir durch NK-Produktion abdecken? Sondern: Was will ich / wollen wir eigentlich TUN und wo scheint es sinnvoll und aussichtsreich, dies „nichtkommerziell“ zu versuchen?

Ein weiteres Problem der Überformung durch die Warenökonomie ist die Tatsache, dass wir häufig unsere Bedürfnisse mit den Mitteln zu ihrer Befriedigung identifizieren. So wird das Bedürfnis nach Entspannung z.B. mit dem Wunsch nach einer Massage verknüpft oder das Bedürfnis nach Mobilität mit dem Besitz eines Autos [6]. Das Bedürfnis wird so objektiviert: aus einem Impuls, sein DaSEIN erträglich(er) zu gestalten, wird ein HABEN wollen.

Was heißt dies nun für die eingangs umrissene Rolle der Bedürfnisse im NK-Konzept? Zunächst eröffnet die dargelegte Abhängigkeit der individuellen Bedürfnisentwicklung von gesellschaftlichen und biographischen Rahmenbedingungen die Möglichkeit, dass die derzeit von der Warenökonomie überformte Bedürfnisstruktur der Menschen in einer neuen, nicht mehr warenförmig vermittelten Gesellschaft so veränderbar ist, dass sie den veränderten Beziehungen der Menschen in dieser neuen Organisationsform und Produktionsweise entspricht und die Bedürfnisse dann tatsächlich die ihr zugedachten Initialisierungs- und Allokations- und Distributionsfunktionen [7] für die gesellschaftliche(n) Produktion(en) einnehmen könnten.

Für die Phase des Übergangs von der kapitalistischen in die neue Gesellschaft, solange also beide Formen nebeneinander existieren, bedeutet das aber zugleich, dass die dann noch mehr oder weniger warenförmig strukturierten Bedürfnisse der Menschen die Entwicklung der neuen Produktionsweise beeinträchtigen oder in falsche Richtungen lenken könnten, wenn sie unkritisch als Ausgangs- und Zielpunkt einer in den Kinderschuhen stehenden NK-Produktion aufgefasst würden. Zum einen könnten zu hohe Erwartungen an Mengen und Vielfalt der nachgefragten Produkte bei den Produzierenden ein Gefühl der Überforderung hervorrufen und ihnen den Mut nehmen, die enormen Herausforderungen der neuen Produktionsweise anzunehmen. Zum anderen bestünde die Gefahr, dass viel Energie in die Produktion von Gütern fließen würde, die später überhaupt nicht mehr gebraucht werden, da die ihnen zugrunde liegenden Bedürfnisse entweder nicht mehr vorhanden oder intelligentere Mittel zu ihrer Befriedigung gefunden sein werden.

Besonders deutlich – und dies entspricht auch meiner persönlichen Erfahrung aus der Praxis der „Lok“ – wird diese Problematik im Zusammenhang mit der Vorstellung von NK-Inseln, die im Umfeld der (noch) dominanten kapitalistischen Warenökonomie versuchen, einen möglichst hohen Anteil ihrer Bedürfnisse nichtkommerziell zu befriedigen. Unter den in derartigen Projekten meist anzutreffenden Bedingungen knapper Ressourcen entsteht hier ein ständiges Spannungsfeld zwischen Bedürfnissen und den zu ihrer Befriedigung zur Verfügung stehenden Mitteln. Wird versucht, die nichtkommerzielle Ressourcenbasis zu erweitern, resultiert dies häufig in einer Überforderung der Beteiligten. Wird dem entgegengewirkt, entsteht dagegen ein höherer Bedarf an Geldmitteln für die Kompensation weggefallener NK-Ressourcen aus der Warenökonomie, der die Projektmitglieder wiederum unter Druck setzt, diese Mittel zu beschaffen. Kommen dann noch warenförmig formulierte Bedürfnisse von Einzelnen dazu, besteht die Gefahr, dass aus dem Ressourcendilemma der Gruppe ein komplexes Konfliktfeld zwischen den Mitgliedern erwächst, deren Bedürfnisse in Konkurrenz zueinander stehen.

Die Commons-Bewegung sowie auch die Keimformtheorie erscheinen mir dafür mögliche Anknüpfungspunkte zu bieten.

Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte sein, zunächst nicht die Bedürfnisse allgemein, sondern die „produktiven“ Bedürfnisse (s.o.) zum Ausgangspunkt der NK-Produktion zu machen. Die Frage würde dann nicht mehr lauten: Was BRAUCHEN wir und wieviel davon können wir durch NK-Produktion abdecken? Sondern: Was will ich / wollen wir eigentlich TUN und wo scheint es sinnvoll und aussichtsreich, dies „nichtkommerziell“ zu versuchen?

Die Commons-Bewegung sowie auch die Keimformtheorie erscheinen mir dafür mögliche Anknüpfungspunkte zu bieten. Natürlich würde ein derartiger Perspektivwechsel einige Implikationen mit sich bringen: Zum einen müssten wir akzeptieren lernen, dass wir auf absehbare Zeit nur Keimformen[8] nichtkommerzieller Produktion bzw. Vergesellschaftung hervorbringen können, die nicht nur ein sehr begrenztes Widerstandspotential gegen den Kapitalismus entwickeln können, sondern unter Umständen sogar für das herrschende System funktional [9], [10] werden könnten (Beispiel: Freie Software). Auch die Vorstellung, dass inmitten der Warenvergesellschaftung eine ständig steigende Zahl nichtkommerzieller Widerstandsinseln entstehen könnte, die für immer mehr Menschen eine Ausstiegsoption eröffnen würde, scheint mir aus dieser Perspektive nur schwer möglich. Vielmehr werden wir uns damit abfinden müssen, weiterhin einen Großteil unserer Reproduktion über die Warenökonomie zu bestreiten, solange diese noch nicht durch inhärente Krisen und das Aufwachsen der neuen Keimformen ernsthaft in Bedrängnis geraten ist.

Fußnoten

Autor*innenbeschreibung:

Rene ist Sozialwissenschaftler mit den Interessenschwerpunkten Kritik der politischen Ökonomie (Marx) und Wertkritik, Gründungsmitglied der Lokomotive Karlshof und Mitautor des Konzepts „nichtkommerzielle Landwirtschaft“ (NKL).